‚Du weißt nicht, wie es ist…‘ oder ‚die Nacktheit der europäischen Frau‘

ICH LESE DIR MEINE GEDANKEN VOR, MIT DER HOFFNUNG HIER MEHR WEITERZUKOMMEN…

Sie schaut mich an, mit diesem einen Blick, genau diesem Blick, und sagt:

„Du weißt einfach nicht, wie es für uns ist, jetzt im Sommer. Wir sind wirklich besorgt. Diese Männer kommen aus Kulturen, wo sie das nicht kennen, diese Nacktheit. Wir sind besorgt, wenn wir uns (Anführungszeichen) freizügiger (Anführungszeichen) kleiden. Ihre Blicke…“

Sie erklärt mir noch, wie es in der Kultur dieser Männer ist. Bezug zur Sexualität in ihren damaligen Gesellschaften. Dass es vielleicht auch ein verschiedenes religiöses Verständnis gibt… Und, dass diese Männer vielleicht nur Verschleierung kennen und deswegen ihre Reaktion so wäre…

Mir bleibt nur eines im Kopf…

„Du weißt nicht, wie es uns geht…“

Ich kann nur mehr schwer zuhören. Innerlich hab ich schon längst abgeschaltet.

„Du weißt nicht, wie es uns geht“, sagte sie mir? Hab ich das richtig gehört? Hab ich das richtig verstanden?

Ich könnte mich doch gar nicht in ihre Lage versetzen? Weil ich ein Kopftuch trage? Weil ich mich nicht „freizügig“ kleide? Weil ich als Frau sexistische Blicke nicht erlebe?

Der Satz hallt immer wieder durch meinen Kopf: Du weißt nicht, wie es uns geht. Du weißt nicht, wie es uns geht. Du weißt, nicht wie es uns geht….

Ich hole tief Luft.

Weiß du was? DU weißt nicht, wie es UNS geht! IHR alle wisst nicht, wie es uns geht! Ihr habt doch keine Ahnung, was los ist auf dieser Welt.

Du weißt nicht, wie eine sichtbar muslimische Frau im Sommer ihre Wohnung verlässt. Du weißt nicht, wie es das ganze Jahr lang ist, als muslimische Frau die Wohnung zu verlassen.

Du weißt nicht, mit was für Gefahren ich auf der Straße rechnen muss. Was ich tagtäglich ertragen muss. Was für eine Erniedrigung ich immer wieder erleben muss.

Du weißt nicht, wie ich ignoriert, nicht bedient, nicht wahrgenommen werde und wie ich wahrgenommen werde, wenn ich wahrgenommen werde – weil ich mich so kleide, wie ich will.

Du weißt nicht, welche Blicke ich ertragen muss, weil ich so rausgehe, wie ich will.

Du weißt nicht, welche non-verbale, verbale und oft auch körperliche Aggressivität ich bereits erleben musste und erleben werde, weil ich so lebe, wie ich will.

Du weißt nicht, wie mich diese Aggressivität immer wieder erschüttert und diese Entmenschlichung immer wieder verletzt, weil ich mich so anziehe, wie ich will.

Du weißt nicht, wie es uns geht.

Dann sagst du mir auch noch, ich provoziere mit meinem Kopftuch. Bitte was? Ich provoziere?

Provoziert deine Nacktheit auch? Provoziert dein Outfit auch? Provoziert dein Sommerlook auch?

Sprich also nicht davon, dass ich nicht weiß, wie es euch geht, denn du hast ja keine Ahnung, wie es uns schon immer gegangen ist. Deine Unsicherheit wird thematisiert, deine Unsicherheit wird betitelt. Deine Unsicherheit wird mit Schildern in Bädern bedacht, aber über unsere Unsicherheit weiß keiner Bescheid, über uns redet niemand, für uns interessiert sich niemand.

Muslimische Frau werden auf der Straße getreten, angespuckt, beschimpft, gestoßen, geohrfeigt, geschlagen, im Geschäft nicht bedient, mies behandelt, erniedrigt, diskriminiert– weißt du, dass das täglich passiert? Weißt du, wie oft ich weinend eine Freundin angerufen habe? Weißt du, wie oft mich Freundinnen weinend angerufen haben?

Dich greifen Männer auf der Straße an? Sie rufen dir was nach? Sie starren dich an? Das finde ich sehr schlimm!

Mich greifen Männer, Frauen, Gesellschaft, Institutionen, Politik, Gesetze an. Was ich erlebe, sind keine Einzelfälle, Verachtung ist kultiviert, ist strukturiert, in Gesetze gegossen, in Institutionen und Policies verankert. Gerichte befassen sich damit, ob ich anziehen kann, was ich will.

Auch das finde ich sehr schlimm!

Aber, kannst du dir das vorstellen?

Ich muss mir jeden morgen überlegen, was ich anziehe, damit ich ja nicht falsch verstanden werde: Zu bunt? Ah, die haben keine Ahnung von Mode! Zu dunkel? Die arme unterdrücke Muslimin! Die böse Islamistin! ISIS-Schlampe! Dschihad-Braut! Kopftuchmafia!

Ich bin müde, wirklich müde von der Arbeit, aber ich kann nicht einfach gesenkten Hauptes gehen. Wie schaut denn das aus, wenn ich so gehe? Wie eine Frau, die nicht selbstbewusst ist? Wie eine unterdrückte Muslimin? Wie eine Frau, die schwach ist? Und wenn ich schwach aussehe, pöbeln mich dann irgendwelche Leute eher an?

Weißt du was Performance ist? Das ist jeder Schritt, den ich in der Öffentlichkeit mache. Ich muss meine erzwungene Performance für den Widerstand nützen, damit ich nicht in euren Stereotypen ertrinke.

Und dann sagst du: Du rückst dich doch selber ins Rampenlicht. Tu dir das nicht an. Leg‘ einfach dein Kopftuch ab!

Also sage ich: Ja, du hast Recht. Stimmt. Um Gottes Willen, tu dir das doch nicht an. Zieh‘ dir doch einfach was an!

Ich leg mein Kopftuch ab.

Du ziehst dir was an.

Haben wir das Problem in unserer Gesellschaft damit gelöst?

Sind wir unseren feministischen Forderungen gerecht geworden, für die wir uns seit Jahrzehnten einsetzen?

Glaubst du jetzt, dass ich weiß, wie es ist.

Und verstehst du vielleicht, dass es um Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft geht. Machtverhältnisse die UNS (ja dich und mich) Frauen weiterhin zu Objekten dieser Machtträger (und in meinem Fall auch -träger_innen) machen wollen, die uns nie als Subjekt sehen wollen, als Teil ihrer Macht!?

Weißt du jetzt, was zu tun wäre? Weißt du jetzt, dass es kein DU und ICH gibt sonder ein UNS.

Wir beide. Gegen Sexismus. Gegen Frauenfeindlichkeit.

Aber bitte, ohne Rassismus.

Gedanken.

Asma Aiad

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen auf: asmaaiad.com/blog (13.06.16)

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